Der 1. Strafsenat hat mit Beschluss vom 25. Januar 2012 (1 StR  45/11) eine 49 Seiten umfassende - wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung zur Veröffentlichung vorgesehene - Entscheidung vorgelegt, die sich grundlegend mit dem Gebot der persönlichen Leistungserbringungspflicht, der Delegationsfähigkeit von Leistungen und der im Vertragsarztrecht entwickelten „streng formalen Betrachtungsweise“ befasst.

Der Fall

Der Angeklagte betrieb als Arzt für Allgemeinmedizin eine mit der Erbringung von Naturheilverfahren, Homöopathie- und Osteopathieleistungen beworbene Praxis, in der er Privatpatienten behandelte (Privatliquidation). Das Landgericht München I verurteilte den Angeklagten wegen Betruges in 129 Fällen zu drei Jahren und drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe, da er Rechnungen an seine Patienten (über einen insoweit gutgläubigen Abrechnungsservice) legen ließ über Honorare, für tatsächlich nicht erbrachte, tatsächlich nicht von ihm erbrachte und tatsächlich nicht so erbrachte Leistungen. Das Landgericht bezifferte den Schaden auf ca. 750.000 Euro, was rund 30 % des gesamten Praxisumsatzes des Angeklagten ausmachte und verurteilte ihn wegen Betruges im besonders schweren Fall gem. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB (Gewerbsmäßigkeit) sowie Nr. 2 StGB (große Anzahl). Darüber hinaus wurde dem Angeklagten verboten, für die Dauer von drei Jahren als liquidationsberechtigter Arzt oder als angestellter Arzt mit eigenem Abrechnungsrecht tätig zu werden (Berufsverbot).

Die Feststellungen des Landgerichts

Fallgruppe 1: „nicht so“ erbrachte Leistungen

Der Angeklagte war Mitglied einer Laborgemeinschaft und bezog von dieser Laborleistungen der Klasse M II. Diese durfte er zwar gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) selbst abrechnen. Mit dem Hinweis auf eine „sehr umfangreiche und zeitintensive Leistung aufgrund persönlicher Befunde“ rechnete der Angeklagte die Leistungen jedoch statt mit dem hierfür vorgesehenen Standard-Steigerungsfaktor von 1,15 (§ 5 Abs. 4 Satz 2 GOÄ) mit dem Höchst-Steigerungsfaktor von 1,3 ab (§ 5 Abs. 4 Satz 1 GOÄ), obwohl er keine einzige Befundung im Bereich M II selbst je durchgeführt hatte, sondern sämtliche Parameter bei der Laborgemeinschaft bezogen hatte. Das LG verurteilte ihn wegen der Abrechnung der überhöhten Beträge (Differenz zwischen dem 1,15- und dem 1,3-fachen Satz). Zudem rechnete der Angeklagte die von der Laborgemeinschaft bezogenen Untersuchungen der Klasse M II als angebliche eigene im Labor erbrachte Leistungen der Klasse M I ab, dies wiederum teilweise mit dem unzutreffenden Höchst-Steigerungsfaktor von 1,3, was das Landgericht München I ebenfalls als Abrechnungsbetrug wertete.

Fallgruppe 2: nicht persönlich erbrachte Laborleistungen

Der Angeklagte durfte sog. Speziallaborleistungen der Klassen M III und M IV nur von einem hierzu befähigten und einzig gegenüber dem Patienten liquidationsberechtigten Laborarzt (Speziallabor) erbringen lassen. Wenn er Untersuchungen der Klassen M III oder M IV benötigte, sandte er die dafür erforderlichen Proben an einen Laborarzt, der die Proben fachlich und medizinisch korrekt untersuchte und die jeweiligen Ergebnisse zurücksandte. Der Laborarzt machte seine Leistungen nicht gegenüber dem Patienten geltend, sondern stellte diese dem angeklagten einsendenden Arzt zu einem niedrigen, der Höhe nach vom Gesamtbeauftragungsumfang abhängigen Betrag zwischen 0,32 (Rabattstufe für „gute Kunden“) und 1,0 des für die Leistung maßgeblichen jeweiligen GOÄ-Satzes in Rechnung. Der Angeklagte rechnete sodann gegenüber seiner Privatpatienten die durchgeführten Untersuchungen als eigene ab. Das LG wertete die Abrechnungsmethode als Betrug, obwohl in allen der Verurteilung zugrunde liegenden Fällen die Laborleistungen „tatsächlich benötigt“ und „fachlich und medizinisch korrekt“ erbracht wurden.

Fallgruppe 3: nicht persönlich erbrachte ärztliche Leistungen

Weiterhin ließ der Angeklagte Behandlungen als eigene abrechnen, die in seinen Praxisräumen tätige Therapeuten erbrachten, die weder approbiert noch niedergelassen waren und daher keine Berechtigung hatten, selbständige Leistungen an Patienten zu erbringen und abzurechnen. Tatsächlich erbrachten diese an den Patienten des Angeklagten in eigener Verantwortung ohne Aufsicht oder Kontrolle durch den Angeklagten (aber fehlerfrei) osteopathische Leistungen und Akkupunkturleistungen. Der Angeklagte führte jeweils ein „Eingangsgespräch“ und ein „Abschlussgespräch“ mit den Patienten, er hatte jedoch – nach den Feststellungen des Landgerichts – nicht die fachlichen Kenntnisse, die Tätigkeit der Therapeuten zu überwachen. Dennoch rechnete er diese Leistungen als eigene ab, was das LG ebenfalls als Abrechnungsbetrug wertete.

Die Entscheidung des BGH

Täuschung i.S.v. § 263 StGB

Der BGH erteilt einer vereinzelt in der Literatur vertretenden Auffassung, dass es sich bei der Inrechnungstellung von Gebührenpositionen um bloße Rechtsansichten handelt, eine deutliche Absage und führt zur Täuschungshandlung aus:

„Bei der hier in Rede stehenden privatärztlichen Liquidation wird dem Patienten eine gem. § 12 GOÄ zu spezifizierende Rechnung übersandt, in der – neben dem Steigerungsfaktor, § 12 Abs. 2 Nr. 2 GOÄ – die erbrachte Leistung mit einer kurzen Bezeichnung anzugeben ist. Hierüber täuscht der Angeklagte ausdrücklich, wenn er – wie etwa im Fall nicht erbrachter Laborleistungen der Klasse M I oder im Fall der Abrechnung von Osteopathie- und Akkupunkturleistungen durch tatsächliche nicht durchgeführte ärztliche Leistungen – in Rechnung gestellte Leistungen tatsächlich nicht erbracht hat. Gleiches gilt, soweit der Angeklagte zu der gem. § 12 Abs. 3 Satz 1 GOÄ erforderlichen Begründung eines erhöhten Steigerungsfaktors eine in Wahrheit nie durchgeführte eigene Befundung angeben lässt […]. Auch soweit der Angeklagte – wie in den Fällen der Speziallaborleistungen sowie der Abrechnung von Osteopathie- und Akkupunkturleistungen – nicht selbst erbrachte ärztliche Leistungen als eigene hat abrechnen lassen, behauptet er nicht lediglich, zu deren Abrechnung berechtigt zu sein, sondern auch (zumindest konkludent, was vom möglichen Wortsinn des § 263 Abs. 1 StGB umfasst ist, vgl. BVerfG, Beschl. v. 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2005/09, 2 BvR 1857/10, Rn. 168), dass die Voraussetzungen der der Abrechnung zugrunde liegenden Rechtsvorschriften eingehalten worden seien. Dies entspricht gefestigter Rechtsprechung zum Abrechnungsbetrug bei Vertragsärzten (vgl. BGH, Urt. v. 1. September 1993 – 2 StR 258/93; BGH, Urt. v. 10. März 1993 – 3 StR 461/92; BGH, Urt. v. 21. Mai 1992 – 4 StR 577/91; BGH, Urt. v. 15. Oktober 1991 – 4 StR 420/91), für privatliquidierende Ärzte gilt nichts Anderes. Wer eine Leistung einfordert, bringt damit zugleich das Bestehen des zugrunde liegenden Anspruchs […], hier also die Abrechnungsfähigkeit der in Rechnung gestellten ärztlichen Leistungen zum Ausdruck [… Der] wertende Rückgriff auf die in der Abrechnung in Bezug genommene GOÄ [prägt] die für den Rechnungsempfänger maßgebende Verkehrsauffassung vom Inhalt der mit der Rechnung abgegebenen Erklärung“.

Der BGH betont, dass Speziallaborleistungen nach den Abschnitten M III und M IV nicht delegierbar sind, sodass dem Angeklagten eine diesbezügliche Abrechnung als eigene Leistung versagt bleibt. Auch die von dem Angeklagten „eingekauften Leistungen“ der Therapeuten durfte weder der Angeklagte als eigene abrechnen, noch die Therapeuten, da diese über keine für die Erbringung von Akkupunkturleistungen oder osteopathische Behandlung erforderliche Erlaubnis nach § 1 Heilpraktikergesetz (HeilpraktG) verfügten.

Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ, der als Einschränkung der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung eng auszulegen ist (AG München, Urt. v. 9. Juni 1993 – 232 C 4391/93), kann der Angeklagte Gebühren (also Vergütungen für die im Gebührenverzeichnis genannten ärztlichen Leistungen) für die nicht selbst erbrachten Therapieleistungen nur abrechnen, wenn sie unter seiner Aufsicht und nach fachlicher Weisung erbracht worden wären.

Das Landgericht stellte fest, dass der Angeklagte die Therapeuten nicht persönlich überwacht hat, teils war er ortsabwesend und auch wenn er zeitgleich mit den Therapeuten in den Praxisräumen anwesend war, hat er diesen keine Weisungen erteilt, da ihm hierzu auch die fachliche Qualifikation fehlte. Als nach fachlicher Weisung erbracht können Leistungen schon nicht angesehen werden, die der Arzt selbst mangels entsprechender Ausbildung nicht fachgerecht durchführen kann. Weiterhin hatte der Angeklagte Therapieleistungen, die nicht delegationsfähig waren, da sie vom Arzt selbst zu erbringende Kernleistungen darstellen (Untersuchung, Beratung, Entscheidung über therapeutische Maßnahmen) den Therapeuten übertragen und jedenfalls nicht delegieren dürfen.

Irrtum i.S.v. § 263 StGB

Das Landgericht stellte fest, dass die Patienten „darauf vertrauten, dass die Rechnungen von dem Angeklagten korrekt erstellt wurden [und] an die Rechtmäßigkeit der Abrechnung geglaubt“ haben. Weder Zweifel des Patienten an der Richtigkeit der erstellten Rechnung noch eine etwaige Leichtgläubigkeit der Patienten stünden der Annahme eines Irrtums entgegen. Der BGH führt bestätigend aus:

„Ein Irrtum im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB setzt grundsätzlich nicht voraus, dass sich der Adressat einer auf einer Gebührenordnung basierenden Rechnung eine konkrete Vorstellung über die Berechnung und die in Ansatz gebrachten Bemessungsgrundlagen macht. Entscheidend – aber auch ausreichend – ist das gedankliche Mitbewusstsein über die Ordnungsgemäßheit der Rechnungsstellung.“

Schaden i.S.v. § 263 StGB

Der BGH stellt mit seiner neuen Entscheidung weiter ausdrücklich klar, dass die dem Sozialversicherungsrecht entlehnte streng formale Betrachtungsweise, eine „gefestigte“ Rechtsprechung auch des Bundesgerichtshofs zum vertragsärztlichen Abrechnungsbetrug sei (vgl. BGH, Urt. v. 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02; BGH, Beschl. v. 28. September 1994 – 4 StR 280/94; BGH, Urt. v. 10. März 1993 – 3 StR 461/92; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 8. September 1997 – 2 BvR 2414/97) und insbesondere auch auf den Bereich privatärztlicher Liquidation übertragbar sei.

Der BGH führt zum Schaden im Rahmen des ärztlichen Abrechnungsbetruges wie folgt aus:

„Für privatärztliche Leistungen, für die es weder einen Verkehrswert noch einen (objektiven) Markt oder einen von den Vertragsparteien frei zu vereinbarenden Preis gibt, bestimmen die materiell-rechtlichen Normen zur Abrechenbarkeit der Leistungen, namentlich der GOÄ, zugleich deren wirtschaftlichen Wert. Ist etwa eine Behandlungsleistung zwar erbracht, gilt sie aber als mit einer anderen Leistung abgegolten (vgl. z. B. § 4 Abs. 2 a GOÄ), kommt ihr kein eigener wirtschaftlicher Wert zu, mag auch der Patient, hätte er die Leistung alleine bezogen, daraus resultierende Aufwendungen gehabt haben. In dem Umfang, in dem die Rechtsordnung einer privatärztlichen Leistung die Abrechenbarkeit versagt, weil etwa für die Abrechenbarkeit vorgesehenen Qualifikations- und Leistungsmerkmale nicht eingehalten sind, kann ihr kein für den tatbestandlichen Schaden im Sinne von § 263 StGB maßgeblicher wirtschaftlicher Wert zugesprochen werden […]. Führt die erbrachte ärztliche Leistung mangels Abrechenbarkeit nicht zum Entstehen eines Zahlungsanspruchs, findet eine saldierende Kompensation nicht statt. Zahlt der Inanspruchgenommene irrtumsbedingt ein nicht geschuldetes Honorar, ist er in Höhe des zu Unrecht Gezahlten geschädigt. Wer eine Leistung unter den jeweils gegebenen Umständen unentgeltlich erlangen oder bereits dafür Geleistetes zurückfordern kann, ohne hierfür Wertersatz leisten zu müssen, ist in Höhe desjenigen Betrages geschädigt, den er täuschungsbedingt gleichwohl hierfür aufgewandt hat. […] Dass der Arzt durch Leistungserbringung von einer Leistungspflicht befreit wird, eine erneute Behandlung „wirtschaftlich unsinnig“ wäre, ist für die Schadensbestimmung unbeachtlich. Ihr kommt kein wirtschaftlicher Wert zu. […] Lediglich formalrechtliche „Leistungsgewährungsvoraussetzungen“, wie sie als Einschränkungen der zum Vertragsarztrecht entwickelten „streng formalen Betrachtungsweise“ diskutiert werden oder wie sie im Bereich des Subventionsbetruges zum Tragen kommen können, sind der Abrechnung privatärztlicher Leistungen auf der Grundlage der an die Person des Leistungserbringers (z. B. § 4 Abs. 2 Satz 2 GOÄ) oder an die Art und Weise der Leistungserbringung (z. B. § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ) anknüpfenden GOÄ fremd.“

Der BGH erörtert detailliert, dass ein Zahlungsanspruch hinsichtlich der Speziallaborleistungen unter „keinem denkbaren Gesichtspunkt“ bestand. Aus dem „Weiterverkauf“ der Leistungen des Speziallaborarztes an den abrechnenden Angeklagten erwachsen dem abrechnenden Arzt keinerlei Zahlungsansprüche gegen den Patienten, da die Regelungen der GOÄ abschließend sind und der Rechnung des Angeklagten keine durch die Zahlung erlöschende Forderung zugrunde lag. Der Angeklagte selbst habe keine Leistung erbracht und könne auch keine Forderung des Laborarztes geltend machen. Eine Forderung des Laborarztes werde nicht erfüllt, sodass die Gefahr einer weiteren Inanspruchnahme des Patienten durch diesen bestehe. Das Erbringen der Laborleistungen stelle keine vollständige, unmittelbar mit der Verfügung des Patienten verbundene Kompensation dar. Auch die „lege artis“ (Labor) bzw. „fehlerfrei“ (Akkupunktur- und Osteopathie) erbrachten Leistungen führen nicht zur Verneinung des tatbestandlichen Schadens im Sinne von § 263 StGB.

Fazit

Das Risiko der Strafverfolgung für Ärzte – gleich ob zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen oder privatliquidierend – bei der Abrechnung ihrer Leistungen im Falle von Verstößen gegen die persönliche Leistungserbringungspflicht ist enorm gestiegen. Die vorliegende Entscheidung des BGH wird zweifelsohne einer restriktiveren Auslegung der Abrechnungsregeln und der Einleitung von Strafverfahren wegen des Verdachtes des Abrechnungsbetruges Vorschub leisten.

 

BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR  45/11

Quelle: www.bundesgerichtshof.de

Notiert von Auffermann 03/2012